Eine Frau geht Hand in Hand mit ihrer jungen Tochter eine nicht befestigte Straße entlang; in vielen rumänischen Roma-Communitys werden auch heute noch junge Teenie-Mädchen zwangsverheiratet und zum Kinderkriegen gedrängt, wir waren vor Ort
In den Straßen von Munteni | Foto bereitgestellt von der Autorin
Menschen

Unterwegs in einer rumänischen Stadt, in der junge Teenie-Mädchen zwangsverheiratet werden

In einigen Roma-Gemeinden wird diese Form des Missbrauchs unter dem Deckmantel der Tradition weiter fortgeführt. Den rumänischen Behörden scheint das egal zu sein. Ein Ortsbericht.

Warnung: Dieser Artikel enthält Schilderungen von sexualisierter Gewalt.

Schon seit mehreren Jahren steht Rumänien auf EU-Ranglisten für Teenagerschwangerschaften ganz weit oben. 2021 landete das Land laut einer UNICEF-Studie zum Beispiel hinter Bulgarien auf dem zweiten Platz. "Das Phänomen wiederholt sich in den Familien, es wird von Generation zu Generation weitergegeben", heißt es in der Studie. "Gleiches gilt für wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Unsicherheit."

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Was das Ganze noch viel schlimmer macht: Viele dieser Schwangerschaften sind das Resultat von Vergewaltigungen. In Rumänien liegt das Schutzalter bei 16 Jahren. Geschlechtsverkehr mit einer minderjährigen Person zwischen 13 und 15 wird dort dem Gesetz nach mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft, alles mit noch jüngeren Kindern gilt automatisch als sexueller Missbrauch. Leider sieht es in der Realität anders aus. 

Um mehr über dieses Problem herauszufinden, reise ich nach Munteni. Die rumänische 9.600-Einwohner-Stadt liegt im Osten des Landes. In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben dort über 100 Teenagerinnen zwischen 11 und 15 ein Kind zur Welt gebracht. In Munteni gibt es eine große Roma-Gemeinde, in der minderjährige Mädchen dazu gedrängt werden, sehr jung zu heiraten. Diese Ehen sind nicht rechtskräftig, denn das rumänische Gesetz verbietet Hochzeiten vor dem 18. Lebensjahr. Kinderehen gehören dennoch schon lange zu den Traditionen dieser Community.

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Die Verantwortlichen im Rathaus, den Krankenhäusern und dem Jugendamt des dazugehörigen Landkreises Galați wissen vom Ausmaß des Problems, unternehmen aber nichts dagegen. Von den 100 Kindern, die von Teenagerinnen auf die Welt gebracht wurden, die jünger als 15 Jahre waren, haben die Behörden von Galați nur zwei unter ihre Obhut genommen. Der Rest wurde bei den Familie gelassen – obwohl es überhaupt erst die Familien waren, die die Teenagerinnen zur Heirat gezwungen haben.

Im Roma-Viertel von Munteni sind die Straßen nicht asphaltiert, ein Haus reiht sich ans nächste. Auf der Hauptstraße beäugen mich die Frauen des Viertels misstrauisch. Ein paar Mädchen beobachten mich aus der Distanz, direkt zu mir her traut sich niemand. Einige der Mädchen sind augenscheinlich nicht älter als elf oder zwölf, trotzdem tragen sie schon kleine Kinder in ihren Armen. 

Auch ich traue mich nicht, auf die Mädchen zuzugehen. Ich habe Angst, dass die Community sauer auf mich sein könnte. Einige der älteren Frauen beantworten aber ein paar Fragen. Anfangs schwören sie noch, dass alle Mädchen bei der Hochzeit mindestens 16 gewesen seien. In Rumänien ist eine Ehe in diesem Alter unter bestimmten Voraussetzungen – zum Beispiel eine Schwangerschaft – erlaubt. Als ich sie auf die jünger aussehenden Teenagerinnen mit Kindern anspreche, geben die Frauen schließlich zu, dass eine von ihnen erst 13 sei. Aber angeblich sei es ihre eigene Entscheidung gewesen, in diesem Alter schon Mutter zu werden.

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Als ich davon erzähle, dass bei einer offiziellen Zählung des Rathauses rauskam, dass in der Roma-Gemeinde rund 100 Mütter jünger als 15 sind, wollen die Frauen von diesem Vorwurf nichts wissen. Sie sagen, dass andere rumänische Mädchen, die keine Romnja sind, jung heirateten und Kinder bekämen.

"Unsere Mädchen sind gute Hausfrauen. Selbst wenn sie mit 15 oder 16 Jahren heiraten, kümmern sie sich um das Haus und die Kinder", sagt eine Frau, die mir ihren Namen nicht nennen will. Dann mischt sich ein Mann ein. "Wenn sie jung sind, kümmert sich die Familie des Ehemanns um sie", sagt er. "Wir lieben sie, sie liegen uns sehr am Herzen!"

"So ist es eben bei uns."

Ich frage eine der Frauen, in welchem Alter sie geheiratet habe. Sie antwortet, dass sie damals elf gewesen sei. Als ich wissen will, wer ihr Ehemann sei, deutet sie auf den Mann, der gerade gesprochen hat. Er ist 15 Jahre älter als sie und gibt vor mir damit an, fünf Kinder und vierzig Enkelkinder zu haben. Dabei sieht er nicht älter aus als 50. Dann fällt mir ein, dass er ja 26 Jahre alt war, als er seine damals elf Jahre alte Frau geheiratet hat – eine Ehe, der das Mädchen rechtlich gesehen gar nicht zustimmen konnte.

"So ist es eben bei uns." Diesen Satz höre ich in Munteni immer wieder, wenn ich die Leute auf das Problem mit den Kinderehen anspreche. Diese Ehen werden zwischen zwei Familie arrangiert, für die Braut wird dabei ein gewisser Geldbetrag als eine Art Mitgift vereinbart. Dann muss das Mädchen meistens die Schule abbrechen und so viele Kinder wie möglich gebären. Viele Eltern sorgen sich nur um die Jungfräulichkeit, den Geldwert und die Ehe ihrer Töchter.

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Kinderehen sind ein Problem, von dem jedes Jahr auf der ganzen Welt rund 100 Millionen minderjährige Mädchen betroffen sind. Das sehr komplexe kulturelle Phänomen basiert dabei vor allem auf Armut, gesellschaftlichen Normen und der Überzeugung, dass Frauen sich Männern unterzuordnen haben.

Laut der NGO Girls Not Brides sind es vor allem junge Mädchen aus armen Familien, die arrangierte Ehen eingehen müssen. Denn die Eltern gehen oft davon aus, dass die Mädchen nicht so gut arbeiten und Geld verdienen können wie Jungs. Diese Annahme wird nur noch weiter verstärkt, wenn die Mädchen zu Hause mehr mithelfen müssen und dementsprechend weniger Zeit zum Lernen haben.

Und so investieren arme Familien nur in die Bildung ihrer Söhne und arrangieren Ehen für ihre Töchter, um mit dem Brautgeld das Einkommen aufzubessern und zum Beispiel Schulden bezahlen zu können. In vielen Gemeinschaften ist dieses Vorgehen inzwischen so fest verwurzelt, dass es als völlig normal gilt.

"Bei Volksfesten werden minderjährige Mädchen angeboten wie Vieh."

Die Roma-Gemeinde von Munteni leidet unter Armut, Arbeitslosigkeit und einer mangelhaften Infrastruktur. So fehlt es neben befestigten Straßen auch an einem ordentlichen Abwassersystem. Die dort lebenden Menschen fühlen sich von der Politik belogen und im Stich gelassen.

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Ich versuche, mit mehreren Vertretern der Kommunalverwaltung in Kontakt zu kommen. Ohne Erfolg. Bürgermeister Dănuț Oprea ist angeblich im Urlaub, und der stellvertretende Bürgermeister Ionuț Mocanu und verschiedene Sozialarbeiter sagen, dass sie ohne das Einverständnis des Bürgermeisters nicht mit mir reden dürften. Nur eine Person ist zu einem Gespräch bereit: Viorel Lați, ein Vermittler, der seit 2002 für die Beziehung zwischen dem Rathaus und der Roma-Community verantwortlich ist.

Lați sagt, dass die Situation unerträglich geworden sei: Mädchen würden immer jünger verheiratet. Er habe sogar schon einen Fall erlebt, bei dem ein siebenjähriges Mädchen die Ehe schließen musste. "Bei Volksfesten werden minderjährige Mädchen angeboten wie Vieh", sagt Lați. "Die staatlichen Behörden wurden über die Situation längst informiert. Ich habe die Polizei, das Sozialamt und die Kinderschutzbehörde angerufen. Das hat alles nichts gebracht."

Lați sagt, dass die Ehen ohne die rechtliche Bindung eher eine Art lose Vereinbarung zwischen zwei Familien darstellten. Die Vereinbarung basiere vor allem auf Ehre und den sozialen Prinzipien innerhalb der Gemeinschaft. Papiere unterschreibe dabei niemand. Die Familien vereinbarten lediglich einen Geldbetrag, der laut Lați normalerweise um die 3.200 Euro pro Mädchen betrage.

"Einmal habe ich die Polizei angerufen, weil ich wusste, dass an diesem Tag eine Siebenjährige verheiratet werden sollte", erzählt Lați. Die Beamten hätten dann aber nichts unternommen. Lați behauptet sogar, dass sie sauer auf ihn gewesen seien, weil er nicht direkt zu ihnen gekommen war – die Polizeiwache befand sich nämlich direkt neben der Hochzeits-Location.

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"Und vor gut zwei Jahren sammelte ich Beweise für 16 Fälle, bei denen Minderjährige verheiratet werden sollten, und erstattete in der nahegelegenen Stadt Tecuci Anzeige. Aber weder die Polizei noch irgendein Gericht unternahm etwas", sagt Lați wütend. "Wie können die Behörden es einfach ignorieren, dass ein 22 Jahre alter Mann ein sieben oder achtjähriges Mädchen mit nach Hause nimmt und Sex mit ihr hat?"

Ich versuche, die Behörden von Galați zu kontaktieren und herauszufinden, wie die Gesetze zu den Themen Einwilligung und sexueller Missbrauch bei den über 100 Mädchen greifen, die Mütter wurden, bevor sie rechtlich gesehen dem Sex zustimmen konnten. Die Antwort, die ich erhalte, ist nichtssagend und geht auf meine Fragen gar nicht ein. Man teilt mir aber mit, dass die Polizei zu zwei Vergewaltigungen von Mädchen unter 15 ermittelt habe. Zudem habe es zwei Polizeiberichte über sexualisierte Gewalt gegeben. Alle vier Fälle wurden ohne Ergebnis eingestellt. Zu den 16 Fällen, von denen mir Vermittler Lați erzählt hat, kann ich nichts finden. Ein Sozialarbeiter aus Munteni bestätigt mir immerhin, dass es sie irgendwann wirklich gegeben habe. 

"Ich weigere mich, eine Tradition unterstützen, die Gewalt gegen Kinder und Frauen beinhaltet."

Die Roma-Aktivistin Cerasela Bănică sagt, dass die väterliche Seite ihrer Familie von der Tradition der frühen Eheschließung überzeugt sei und vor einigen Jahren eine Ehe zwischen ihrer damals 16-jährigen Cousine und einem 18 Jahre alten Mann arrangiert habe. Ihre Mutter, die so etwas vorher noch nie miterlebt habe, sei zur Hochzeit gegangen und soll das Ganze danach als traumatische Erfahrung beschrieben haben. Zudem habe sie geschworen, dass ihre Töchter das Ganze niemals durchmachen müssten.

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"Sie erzählte, wie grausam es dort gewesen sei", sagt Bănică. "Nachdem das Mädchen übergeben worden war, nahm der Mann sie mit nach Hause, um die Eheschließung zu 'vollenden'. Seine Verwandten versammelten sich an den Fenstern und der Tür und feuerten ihn richtig an, sie noch härter zu nehmen. Sie unterstützen ihn quasi bei der Vergewaltigung des armen Mädchens und freuten sich, dass sie noch Jungfrau war. Das Mädchen verlor wegen der Schmerzen sogar das Bewusstsein. Dabei war sie an sich noch älter als viele der anderen Kinderbräute. Man muss sich nur mal vorstellen, wie sich ein zehn- oder elfjähriges Mädchen in so einer Situation fühlt."

Wie Bănică sagt, präsentiere man Roma-Kinderehen oft als harmlose Tradition. Dabei sei diese Tradition eigentlich nur ein Deckmantel für Vergewaltigung und Missbrauch. "Man darf nicht darüber reden, damit unsere traditionsreiche Kultur nicht schlecht dargestellt wird", so die Aktivistin weiter. "Ich weigere mich jedoch, eine Tradition unterstützen, die Gewalt gegen Kinder und Frauen beinhaltet." 

Ich will von Bănică wissen, warum die rumänischen Behörden dieses Problem nicht ernst zu nehmen scheinen. Laut der Aktivistin liege das daran, dass man die Roma in Rumänien schon lange diskriminiere und vernachlässige. "Viele Vergewaltigungen werden nicht als Vergewaltigungen eingestuft und landen dann nicht vor Gericht", sagt sie. "Dieses ausbleibende Handeln ist eine Form von Rassismus."

Munteni ist leider nicht der einzige Ort in Rumänien, wo so etwas passiert. "Da spielt sich eine Tragödie direkt vor unseren Augen ab", sagt Simona Voicescu von der Hilfsorganisation Necuvinte Association – die NGO, die überhaupt erst auf die Situation in Munteni aufmerksam gemacht hat. "Sobald diese Mädchen mit 11, 12 oder 15 Jahren ein Kind bekommen, schlagen sie einen Lebensweg ein, den sie nicht selbst ausgesucht haben", so Voicescu weiter. "Diese 'Ehen' sind eine Form der Sklaverei, und es gibt sie auch im Jahr 2021 leider immer noch." 

Obwohl Rumänien sich eigentlich um alle seine Staatsbürgerinnen kümmern sollte, haben dort offensichtlich nicht alle Kinder das gleiche Recht auf Bildung, Gesundheit und Sicherheit. "Bei diesem Problem geht es nicht um Tradition", sagt Voicescu, "sondern um den Entzug von Grundrechten."

Frauen, die häusliche oder sexualisierte Gewalt erlebt haben, oder gegen ihren Willen zu Handlungen gezwungen wurden, wird in Deutschland unter der Nummer 08000 11 60 16 Hilfe angeboten. In Österreich kannst du dich an die Frauenhelpline gegen Gewalt wenden: 0800 222 555. In der Schweiz bekommen betroffene Frauen bei der Beratungsstelle für Frauen und unter deren Nummer 044 278 99 99 Hilfe.

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