Ein Bodybuilder auf einem Sockel, viele Menschen in der Fitness-Szene nehmen illegale Anabolika, um größere Muskeln zu kriegen.
Foto: PM Images, Getty
Drogen

Sind eigentlich alle auf Anabolika?

Ein Personal Trainer, ein Bodybuilder und ein Arzt erklären, warum anabole Steroide im Fitnessbereich so weit verbreitet sind.

Viermal pro Woche spritzt sich Francisco Jacinto anabole Steroide, also Anabolika. Der 26-jährige Personal Trainer und Bodybuilder befindet sich gerade in der sogenannten Blasting-Phase, in der er sich hohe Dosen Hormone und andere leistungssteigernde Mittel verabreicht. Blasting und Cruising sind die zwei Phasen einer neuartigen und besonders riskanten Art, Anabolika zu nehmen. Anstatt wie früher zwischen den Zyklen eine Pause einzulegen und dem Körper etwas Zeit zur Erholung zu gönnen, setzt man die Mittel nie komplett ab, sondern nimmt sie während der Cruising-Phase in reduzierter Dosis weiter.

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Fünf Jahre ist es her, dass Jacinto die Hormonpräparate zum ersten Mal genommen hat. Da war er 21. "Ich habe damit angefangen, weil ich unbedingt professioneller Bodybuilder werden wollte. Um bei den Wettkämpfen mithalten zu können, muss ich auf Anabolika sein", sagt er.


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Anabole Steroide sind synthetische Testosteronvarianten. Es gibt sie zum Spritzen oder als Tabletten. Die meisten davon sind verschreibungspflichtige Medikamente, mit denen man zum Beispiel niedrige Testosteronwerte bei Männern therapiert, aber auch Muskelschwund verursacht durch chronische Krankheiten wie Krebs oder AIDS. Bei männlichen Teenagern kann damit die Pubertät eingeleitet werden, wenn sie sich verzögert.

Viele Menschen nehmen diese Mittel allerdings wie Jacinto aus rein ästhetischen Gründen.

Ein mithilfe anaboler Steroide geformter Körper entspricht dem Schönheitsideal des Bodybuildings: extrem große und ausdefinierte Muskeln, wenig Körperfett und stark hervortretende Venen. Aber inzwischen eifern auch ganz normale Pumperinnen und Pumper diesem Ideal nach. Nicht alle wollen zu einer He-Man-Figur mutieren, aber ausdefinierte Muskeln wünschen sich doch die meisten.

In Deutschland und vielen anderen Ländern sind anabole Steroide verschreibungspflichtig, der freie Handel also strafbar. In Nordirland, wo Jacinto herkommt, ist der Handel mit Anabolika ebenfalls verboten, der Besitz aber legal. Aus diesem Grund kann er offen über seinen Gebrauch reden.

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Eine 2022 erschienene Studie schätzt, dass drei bis vier Millionen US-Amerikaner Anabolika verwendet haben, um ihre Muskelmasse zu vergrößern. Die Nutzer sind überwiegend männlich, aber auch immer mehr Frauen greifen zu den leistungssteigernden Mitteln. In Deutschland nehmen schätzungsweise 400.000 bis 700.000 Menschen regelmäßig anabole Steroide. Genaue Zahlen lassen sich aber kaum ermitteln.

Der wachsende Druck, einem bestimmten Aussehen zu entsprechen, lässt sich, wie leider so oft, auf Social Media zurückführen. Wenn man pausenlos mit Menschen bombardiert wird, die aussehen, als wären sie gerade einem Fitnessmagazin entsprungen, kann das auch bei ganz normalen Fitnessstudiobesuchern unrealistische Schönheitsideale fördern. Expertinnen und Experten weisen schon länger darauf hin, dass die Zunahme von Muskeldysmorphie, auch Muskelsucht genannt, mit dafür verantwortlich ist, dass Menschen vermehrt zu den Mitteln greifen.

Auf der anderen Seite werden Fitness-Influencer von Herstellern für Nahrungsergänzungsmittel, sogenannten Supplements, dafür bezahlt, das ganze Jahr einen bestimmten Look zu halten. Wenn diese aufhören würden, Hormon- und Muskelaufbaupräparate zu nehmen, würden sich auch ihre Körper verändern und das hätte Folgen für ihre Karriere.

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Fitness-Coach John Politis arbeitet auch mit Menschen, die entweder aktuell Anabolika nutzen oder genutzt haben. "Für so eine Supplementfirma sieht das nicht gut aus, wenn ein Influencer mit Anabolika aufhört. Warum sieht der schlechter aus, während er unser Produkt nimmt? Die Motivation, jetzt in diesem Moment gut auszusehen, ist viel größer", sagt Politis.

Für Francisco Jacinto ist gutes Aussehen ein Wettbewerb.

"Ich erinnere mich noch, wie ich bei meinem zweiten Junioren-Wettkampf angetreten bin. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den letzten Platz gemacht habe. Das hat mich so fertig gemacht, dass ich geweint habe", sagt Jacinto. "Gegen andere gedopte 20-Jährige anzutreten, hat mir gezeigt, dass ich ohne das Zeug absolut keine Chance habe, wenn ich mit Bodybuilding mein Geld verdienen will."

Fitness-Coach Politis sagt, dass Steroide Menschen dabei helfen, viel schneller Muskeln aufzubauen, Fett zu verbrennen und sich von den Trainingseinheiten zu erholen, als sie es ohne die Mittel schaffen würden: "Die Regeneration geschieht quasi sofort. Das bedeutet, du kannst morgens trainieren und dann am selben Abend wieder." Diese kurze Erholungsphase und das damit einhergehende häufigere Training sorgt in der Regel für größere Muskeln.

Jacinto sagt, die Ergebnisse durch die Präparate hätten ihn begeistert. Er hatte das Gefühl, endlich durch das Training und die Ernährung Fortschritte zu machen.

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Der Arzt Mutahir Farhan verschreibt keine Steroide an Menschen, die damit nur ihr Aussehen verändern wollen. Aber er hat schon mehrere Patienten behandelt, bei denen Anabolika zum Training dazugehören.

"Auch wenn wir dringend davon abraten, Steroide zu benutzen, sollten wir unsere Patienten gut im Auge behalten, die sich dennoch dafür entscheiden – anstatt sie sich selbst zu überlassen, bis es mit ihrer Gesundheit bergab geht", sagt Farhan.

Vor allem ohne medizinische Aufsicht können anabole Steroide eine Menge unerwünschter Nebenwirkungen haben.

Bei Männern können sie die Spermienproduktion verringern, die Brüste vergrößern, die Hoden verkleinern und Haarausfall fördern. Nebenwirkungen bei Frauen sind eine tiefere Stimme, unreine Haut, eine Verkleinerung der Brüste und verstärkter Haarwuchs. Dazu kommen bei allen Geschlechtern schwere Akne, Zysten, hoher Blutdruck, Schlaganfälle und Herzinfarkte.

Farhan sagt, dass die illegalen Anabolika in der Regel aus Ländern stammen, in denen man sie noch rezeptfrei in der Apotheke bekommt. Er habe aber auch Patienten, die ihren Stoff aus dem Darknet beziehen. Wie bei allen Schwarzmarktprodukten wisse man nie genau, was in diesen Mitteln genau drin sei.

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Und sie sind auch nicht gerade billig. "Viele Menschen geben dafür monatlich Tausende Dollar aus. Je mehr ihre Körper wachsen, desto mehr anabole Steroide nehmen sie auch", sagt Farhan.

Trotz der vielen Nebenwirkungen und der hohen Kosten ist es nicht überraschend, dass der Steroid-Gebrauch weiter zunimmt. Der Fitness-Coach John Politis verdeutlicht das an einem einfachen Beispiel: Zwei Freunde trainieren zusammen, irgendwann fällt einem auf, dass der andere viel bessere Resultate erzielt. Teilweise lässt sich das vielleicht auf genetische Veranlagungen zurückführen, aber wenn einer der Freunde zugibt, dass er Steroide benutzt, wird der andere es häufig auch tun wollen. Sehr wahrscheinlich ist keiner von beiden medizinisch gebildet oder gar Arzt. Auf diese Weise geraten auch eine Menge Falschinformationen zu Anabolika in Umlauf. 

So denken Menschen oft, dass sie einfach eine kurze Anabolika-Kur machen, ihre Muskeln aufpumpen und dann aufhören. Laut Francisco Jacinto machen viele ein sogenanntes Sommerprogramm. "Sie wollen nur im Urlaub am Strand gut aussehen und es dann wieder sein lassen." Ihr Plan: Sie trainieren ein paar Monate auf Stoff und danach wieder ohne.

"Darin liegt allerdings die Gefahr, dass man den richtigen Zeitpunkt zum Aufhören verpasst", sagt Jacinto. Der Arzt Mutahir Farhan sagt, dass sich der Körper nach einiger Zeit auf die Mittel verlasse, um die zugelegte Muskelmasse nur zu halten. Wenn die dicken Oberarme nach Absetzung der Anabolika wieder schrumpfen, fühlen sich die Steroid-Konsumenten umso schlechter, ergänzt der Fitness-Coach John Politis. Schließlich haben sie die Kur gemacht, um Muskelmasse zuzulegen. Also fangen sie wieder an. 

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"Wenn jemand dazu noch eine suchtaffine Persönlichkeit hat und mit den Steroiden aufhört, ist es wahrscheinlich, dass die Person die Off-Phase nicht lange genug durchzieht und sie einfach weiternimmt. Auf diese Weise werden Menschen süchtig", sagt Politis. Der Konsum von Anabolika wirkt sich nämlich auch stark auf die Persönlichkeit aus. Während der Kur fühlen sich viele unbesiegbar, fallen dann aber danach emotional in ein tiefes Loch. Viele berichten von Depressionen. "Für die meisten Leute, also fast alle, die einen ersten Anabolika-Zyklus beginnen, ist das am Ende etwas Langfristiges, nichts Kurzes. Und das liegt genau daran", sagt Politis.

"Man darf nicht vergessen, dass sich diese Medikamente massiv auf deinen ganzen Körper auswirken, nicht nur auf die Muskeln und den Körperfettanteil", ergänzt Farhan.

Francisco Jacinto sagt, er sei sich damals über die möglichen Nebenwirkungen bewusst gewesen, als er anfing, aber das habe er akzeptiert.

"Mein langfristiger Plan mit den Steroiden ist, meine Bodybuilderkarriere zu leben und zu genießen. Da ich jetzt schon seit einiger Zeit Steroide benutze, kann ich nicht einfach aufhören. Das würde meine Gesundheit gefährden", sagt Jacinto. Eines Tages wird er eine Testosteronersatztherapie machen müssen, um seine Werte auf einem normalen Niveau zu halten.

Auch in Zukunft werden Menschen anabole Steroide nehmen, um ihren Körperbau zu beeinflussen. Das scheinen professionelle Bodybuilder wie Jacinto und auch Ärzte wie Mutahir Farhan akzeptiert zu haben. Das bedeutet allerdings nicht, dass man einfach stumpf alle Risiken hinnehmen sollte.

Wer trotz allem unbedingt anabole Steroide nehmen möchte, solle am besten mit seinem Arzt darüber reden, sagt Farhan. Dieser könne einen dann noch mal aufklären und auf die verschiedenen Nebenwirkungen entsprechend reagieren. Wegen der Schweigepflicht habe man auch nichts zu befürchten.

Und für alle, die momentan mit dem Gedanken spielen, hat der Bodybuilder Francisco Jacinto einen Rat: "Wenn du Anabolika nimmst, um am Strand zu flexen, ist das vollkommen OK. Ich verurteile niemanden, der das tut. Aber du solltest wissen, dass du auch viel gesünder einen sehr gutaussehenden Körper kriegen kannst."

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